Mummendeys Baum

Auf einer Karte des Fürstlich Braunschweigischen Geometers Theylen betreffend „Abrisse und Theilung der Edlen Freyesten gestrengen Junkern der Kniggen zu Breyttenbeck Holzungen“ Mummendeys Baumaus dem Jahr 1599 (Norden ist unten), aufbewahrt im Gutsarchiv Bredenbeck, ist die Gerichtsstätte der Knigges zu Bredenbeck und der Mummendey-Baum eingezeichnet (Jenkner u. Sagemann a. a. O. S. 71ff). Die beschriebene Gerichtsstätte mit dem zitierten Baum befand sich auf einem Flurstück, dem Deisteranger, einer damals von Bredenbeck und Bennigsen gemeinsam genutzten Viehweide, an dem man auf der B217, von Hannover kommend, etwa 400m hinter Steinkrug vorbeifährt. Ein das Bennigser Gut passierender Weg überquert die Bahnlinie, eine Verbindung zwischen Hannover und Hameln, über Bennigsen/­Lüdersen, Springe und mündet oberhalb der Bennigser Burg auf die B217. Gegenüber, den TP 160,7 kreuzend, führt ein befestigter Weg durch den Wald, an den Ausläufern von Völksen vorbei, nach Springe.Von dieser Kreuzung aus gesehen, hat der Mummendey-Baum zwischen 1500 und 1599 etwa 200m entfernt in nordwestlicher Richtung gestanden.

Wie Jenkner u. Sagemann berichten, lebte um 1500 in Bredenbeck ein Mann namens Mummendey. Ihm wurden neben bekannten Diebereien und Kircheneinbrüchen in Adensen und Wülfingen auch die Ermordung zweier Schüler an der Straße vor der Meinersburg nachgesagt. Der Landesfürst ließ ihn eines Nachts in Bredenbeck ergreifen und den Prozeß machen. Mummendey wurde zum Tode durch das Rad verurteilt. Das Rad mit dem Gerichteten wurde auf einen Eichenstamm gesetzt, dem man vorher die Krone abgeschlagen hatte. Zu der Gerichtsstätte auf dem Deisteranger schlich sich nach einer Wette Olemann aus Bennigsen und brachte als Beweis einen Flicken aus des Gehenkten Jacke mit. Als die Tat bekannt wurde, erlegten die Amtsleute auf dem Calenberge allen Wettbeteiligten eine Strafe auf, Olemann mußte als besondere Sühne ein ganzes Fuder Hafer (1100 kg, 22 Zentner) liefern. Der Eichenstumpf aber wuchs, nachdem man das Rad mit dem Gehenkten entfernt hatte, wieder zu einem stattlichen Baum, dem Mummendey-Baum. Während sonst die Baumstümpfe immer abstarben, wurde der Mummendey- Baum über ein Jahrhundert als Wahrzeichen für die ganze Umgebung bekannt und „Anlaß nicht endender Gespräche an den Winterabenden in den Bennigser Spinnstuben; an der Gerichtsstätte aber gingen die Leute nur mit Scheu und einigem Gruseln vorbei.“

Diese abenteuerliche Geschichte, die in der Bennigser Chronik sehr spannend erzählt wird, wirft einige Fragen auf. Woher stammt der unglückselige Mummendey und was steckte wirklich hinter den Beschuldigungen? Die ungebrochene Lebenskraft des Eichenstumpfs konnte als eine Art von Gottesurteil verstanden worden sein. Wird hierüber und wie wird hierüber berichtet? Nach dem olemanne der Urkunde von 1384 ist dies nun der zweite Bennigser Olemann, der mit einem Mummentey in Zusammenhang gebracht wird!

So viel wußte ich, bis ich im September 2000 bei der Suche nach dem langhe velde uppe der luderser marke im Flurnamenlexikon des Landkreises Hannover nicht fündig wurde und gewohnheitsmäßig, aber ohne große Hoffnung im Register des Hauptbandes unter M, wie Mummenthey, nachschlug. Zu meiner Überraschung las ich „Mummendeys Baum“. Schnell schlug ich die angegebene Seite auf: “Es handelt sich um eine mächtige Eiche, die in der Nähe des ehemaligen Kniggeschen Hochgerichtes stand. 1560 wurde hier der Straßenräuber Mummendey durch das auf den Stamm der Eiche gesetzte Rad hingerichtet. Die Eiche soll wieder Zweige getrieben und Blätter bekommen haben, was als Wunder angesehen wurde.“ Weber a.a.O. Hauptband S. 168. Im Beiheft zur Flurkarte Blatt 4/3 Springe Ost las ich: „Mummendeys Baum, diese Bezeichnung wird jetzt wieder für den Jagen 3 der Kniggeschen Forst verwendet.“ Weber a.a.O. Beiheft zu 4/3 Springe Ost S. 62.

Mir kam wie ein Wunder vor, was ich gerade gelesen hatte. Vor mehr als 18 Jahren, vielleicht in Zusammenhang mit der Erarbeitung und dem Erscheinen der Bennigser Chronik zur Jahrtausendfeier des Ortes 1980, trieb Mummendeys Baum wieder aus, ein neuer Sproß in Gestalt eines synonymen Flurnamens!

Flurkarte

Es entbehrt nicht einergewissen Pikanterie, daß mit dieser Benennung des Jagen 3 der Kniggeschen Forst die Nachfahren der Knigges, der gestrengen Junkern der Kniggen zu Breyttenbeck, den wegen Bruch des Königsfriedens zusätzlich so hart Bestraften, nochmals der Vergänglichkeit entrissen haben. Ich hatte mir schon oft überlegt, mit welchem Gefühl ich bei der Suche nach der Karte des Fürstlich Braunschweigischen Geometers Theylen einmal mit dem Bredenbeckschen Gutsarchiv Verbindung aufnehme, um nach dieser Karte und Prozeßakten oder weiteren Hinweisen zu fragen!

An einem Sonnabend mit schönem Wetter hält es mich nicht mehr. Mit Karte, Kompaß und Höhenmesser mache ich mich auf den Weg. Hole noch meinen jüngsten Sohn Benni ab, dem ich versprochen hatte, mit dabeizusein. Über Hemmingen, Devese, Ohlendorf, Hiddestorf und Lüdersen geht es nach Bennigsen. Bald ist der Weg gefunden, der über die Bahnlinie zur B217 führen muß. Die Bahnüberführung konnte noch mit dem Auto passiert werden, bis zu einem Wegekreuz, wo wir den Wagen stehen lassen. Auf den weiten Feldern wird hier und da gearbeitet, ein Reitertrupp verschwindet hinter einer Anhöhe und taucht im Galopp aus einem Wäldchen wieder auf. Spaziergänger mit Kindern und Hunden, ein Arbeiter auf einem Fahrrad. Unser Weg führt nun immer mehr in den Wald hinein. Ich schaue auf die Uhr: auf dem Rückweg will ich die Zeit stoppen, die Olemann von der Richtstätte bis Bennigsen unterwegs war. Ein forstgrün Gekleideter mit kläffendem Dackel, beide nicht ortskundig, haben auf meine Frage nach dem Jagen 3 keine gute Antwort! Der Wald ist nun dicht und dunkel und es riecht nach Moos und feuchtem Boden. Nur unsere eiligen Schritte sind zu hören.

Dann übertönt immer deutlicher der Lärm einer Straße die Ruhe des Waldes. Hinter Leitplanken dichter Verkehr auf der hier vierspurigen B217. In unregelmäßigen Abständen ebbt der Autostrom ab, zu kurz, um gefahrlos hinüberzukommen. Drüben, wo dicht der Wald sich fortsetzt, liegt unübersehbar, doch unerreichbar, die Einmündung des Weges nach Völksen und Springe. Der Höhenmesser zeigt 160m an. Jetzt war es nicht mehr weit. Noch zweihundert Meter von hier in nordöstlicher Richtung. Hohe Buchen und Eichen und ein zerklüfteter Waldboden. Ein Falke, im Sturzflug nach Beute aus. Vielleicht war es an dieser Stelle - ich mache ein paar Fotos.

Zurück an der B217 treffen wir auf zwei Radsportler, denen der Weg hinüber, mit ihren Rädern huckepack, auch zu risikoreich war. Sie werfen einen Blick auf meine Karte, ein Finger deutet zielsicher auf unseren Standort, etwa 300 m von der Lärmschutzwand für Steinkrug entfernt. Dorthin wollen Sie zurück, um auf die andere Seite zu gelangen. Wir suchen nach einem Weg zur Bennigser Burg. An der ersten größeren Wegkreuzung biegen wir nach rechts ab und erreichen bald einen tiefen Einschnitt, unten hätte ein Bach fließen können. Wir gehen weiter, dann wallartige Erhebungen und eine Hinweistafel, die unsere Vermutungen bestätigt, die Bennigser Burg. Wurde sie früher nicht auch Meinersburg genannt?

Später erst fällt mir ein„...an der Straße vor der Meinersburg...“. Ob der Straßen­räuber Mummendey wirklich die beiden Schüler umgebracht hat, wie ihm nachgesagt wurde? Nomen est omen? Das heimliche, aber auch unheimliche, das in „Mummen“ anklingt, war das bewußt? Mummenthei war auch zu dieser Zeit ein Familienname, in Gestorf und Hiddestorf ganz sicher, und kennzeichnete keine Einzelperson. Nun war ihr Name, ein nicht so häufiger Name in einer kleinen noch überschaubaren Welt, mit diesem Unglücksmenschen und dem wundersamen Baum verknüpft. Verlor man da seinen Vornamen und hieß nur noch Mummenthey, wie der Hiddestorfer Kötner? War der Straßenräuber verwandt mit den Mummenteys, die, fünf Generationen zuvor, ihren Sohn Hinrik in Erfurt und Leipzig studieren ließen?

Wieder an der Kreuzung starte ich die Stoppuhr. Ob es mir wohl einerlei wäre, wie Olemann bei Nacht von Bennigsen hierher und zurück zu gehen? Langsam lichtet sich der Wald. Bald kann man weit bis über die Leineniederung hinaus sehen. Zwischen dem Jeinser Holz und Gestorf hindurch Schulenburg und Alt-Calenberg. Inmitten des Weges ein schwarzgepanzerter Käfer, der wehrhaft mit geöffneten Greifzangen und nach Skorpionsart zurückgekrümmtem Hinterteil auf den Angreifer zielt, bereit ihn zu ergreifen oder eine Ladung Gift entgegen zu schleudern. Benni hat ihn mit einem Grashalm provoziert, sorgt aber auch dafür, daß der Käfer den gefährlicheren Fahrweg verläßt. Haben die Herren von Bennigsen auch mal einige reiche Kaufleute samt Warenzug kurzerhand ergriffen, wie sich auch die Stadt Hannover nicht zu fein war, die Herren von Mandelsloh bei günstiger Gelegenheit um ihre Kaufmannschaft zu bringen? Ein randvoll mit Grafitti besprühter Regionalzug fährt lautlos in Richtung Bennigser Bahnhof. Mein Auto steht noch an Ort und Stelle. In der Nähe ein Trecker mit Anhänger. Mit lauter Sirene kommt ein Rettungswagen auf uns zu und verschwindet im Wald. Ich denke an den schwarzen Käfer und die B217, dort, wo der Waldweg zerschnitten wird. Es wird doch keiner versucht haben, sie ungeduldig zu überqueren – leichtsinniger Passant, überfahren auf der Straße vor der Meinersburg!

Im Auto stoppe ich die Uhr, den Rest der Zeit müssen wir schätzen. Langsam fahren wir nach Bennigsen zurück. Eine halbe Stunde haben wir gebraucht, hin und zurück: eine Stunde. Eine Stunde wird Olemann auch benötigt haben mit seiner Leiter, bei Dunkelheit, durch den Wald bis zum Deisteranger und zurück zu seinen Wettkumpanen im Bennigser Krug. Die Amtleute vom Calenberg haben keinen Spaß verstanden, auch Olemann wird er bald vergangen sein. Die Bestrafung der heimlichen Tat, ein Fuder Hafer vom Deister an die Leine und diesmal nicht bei Nacht und Nebel, bewirkte auch die gewünschte Publizität. Sie ist nur der Auftakt zu einer Serie spektakulärer Erinnerungen an den Straßenräuber Mummendey, das Baumwunder steht noch bevor - Erinnerungen, die in der Vergangenheit ihre Wurzeln haben und ihren Schatten bis in die heutige Zeit werfen.