Lüdersen, ein Anfang

Lüdersen, auf dem Berge. Die sonnige, baumgesäumte Landstraße duckt sich unter dem Eisenbahndamm hindurch, holt Schwung, um dann mit einigen Windungen bis in das Zentrum des alten Dorfes anzusteigen. Das Auto habe ich schon vorher abgestellt, der Wehrturm der Lüderser Kirche weist mir den Weg. Vielleicht bin schon mal an den vif ackere de se lighet uppe der luderser marke an dem langhe velde vorbeigekommen; hier an der Kirche werden sich nach all den Jahrhunderten mit Sicherheit unsere Schritte kreuzen. Das grobe Mauerwerk mit den efeuumrankten Stützpfeilern leuchtet in der Sonne, belagert von Grabsteinen, mit Namen, die ich aus vielen schriftlichen Quellen kenne – doch weiß ich, daß ich auch unter den verwitterten, kaum lesbaren Inschriften nach Mummentheys nicht zu suchen brauche.

TaufengelFür eine Hochzeit wird die Kirche geschmückt und vorbereitet, so kann ich eintreten und mich umsehen. Die Presbyterin, Frau von Arnim, steckt die Gesangbuchnummern in die Holztafeln und ich frage, ob ich den schwebenden Engel, der eine Taufschale in der Hand trägt, fotografieren darf. Der Name Mummenthey, mein Passierschein und Paßwort, nein, der ist nicht bekannt. Näher komme ich der Vergangenheit hier nicht mehr.

Ein jüngerer Lüderser mit Reparaturarbeiten in seinem Vorgarten beschäftigt, vernachlässigt zusätzlich durch unser Gespräch die schließlich laut lärmenden Kinder bis eine übellaunige Frauenstimme ihn hinter das Haus verscheucht.

Ich gehe noch etwas im Ort umher - es muß eine große Hochzeit werden - und schaue von einigen Punkten weit über das Calenberger Land. In der Dorfmitte ein heruntergekommener Supermarkt, den ich nicht aus dem Blickfeld des Kamerasuchers verbannen kann. läßt. Die Frau eines älteren Ehepaares läßt sich auf ein Gespräch über den Gartenzaun mit mir ein. Mein Schwärmen über die schöne Lage des Ortes und auch ihres Hauses wird durch das Beklagen der weiten Wege zum Arzt, zur Krankengymnastik und zum Einkaufen nach Bennigsen relativiert. Früher hätte es das alles im Ort gegeben. Die schöne Aussicht, das wäre doch nur für die, die sich – eine vage Handbewegung gibt die ungefähre Richtung an – weit entfernt vom Dorf ihre Einfamilienhäuser gebaut, sonst aber nichts mit Lüdersen zu tun hätten. Einen Führerschein, warum hat man ihn damals  nicht gemacht!

Was hat Diderike Mummentey to ludersen hier getan, in diesem Ort, an dem die fünf ihm verpfändeten Äcker liegen? War er es, der mit einer van Lemmede verheiratet, mit einer Familie verschwägert war, die in vielen Quellen aus dem 15. Jahrhundert durch Ratsämter und Spenden an Kirchen genannt wird?

Dann muß Hinrik Mummentey sein Sohn gewesen sein. Hinrik, der 1406 in Erfurt studiert und 1409 an der in diesem Jahr gegründeten Leipziger Universität am St. Nikolaustag den Grad eines Baccalaureus erwirbt. Sebastian Brants Narrenschiff-Strophen ‚Von unnutzem studieren’ mag den späteren Zeiten gegolten haben. Eine Eintragung im Copialbuch von Stadthagen 1411 sichert auch Hinrik Mummentey, dem Schwestersohn der beiden Herren Herman und Hinrik van Lemmede, eine Rente von 5 Pfund zu, jährlich in Stadthagen an St. Michaelis, ausgezahlt, wofür die drei 50 Pfund hannoverscher Pfennige dem Rat der Stadt übergeben haben.

Etwas mehr als diese jährliche Rente, sieben Pfund hannoverscher Pfennige, hat Diderike Mummentey für die fünf Äcker, ungefähr 3 Hektar Land, jenem Johannes von Bolzum, geliehen, der trotz oder wegen des angehängten knape, knapp bei Kasse war. Wenn der Schuldner durch das knape, seine ritterliche Herkunft herausstellt, welchen Stand bekleidete dann der Gläubiger, bedeutet das diderike mummenteye to ludersen. seinen Wohnort oder gar seinen Geburtsort? An das Original der Urkunde, deren Faksimile ich als Kind schon kannte, hängte der Ritter Herr Helmich von Bennigsen sein Siegel und verbürgt sich mit fünf besetenen buren to bennexen für die Einhaltung des im Kloster Wülfinghausen ausgefertigten Vertrages.

Zum Kloster, heute ein evangelisches Damenstift, führt ein etwa 15 km langer Weg von Bennigsen aus über Mittelrode und Eldagsen an den Nordost-Hang des kleinen Deisters. Mit dem Auto fährt man ein wenig Zickzack, über die schmalen Landstraßen dauert länger als ich dachte. Der Wald ist immer noch allgegenwärtig, wohin man auch blickt, nie verschwindet er hinter dem Horizont. Überall auch seine Statthalter, eckig zugeschnitten erinnern sie noch an die Rodungszeit um 1300, die Wälder suntwic und nortwic, die Gehölze vretholt, berck, sprec, horn, botzel, busch, heytz, schirek und strot. Die Bennigser Bauern werden diesen Weg wohl zu Fuß zurückgelegt haben, vier Stunden haben sie bestimmt gebraucht. Wie gelangte Dietrich Mummentey am 29. September 1384, dem Michaelistag, hierher? Ebenfalls zu Fuß oder zu Pferde? Der Innenhof des Klosters mit weißen Bänken und roten Rosen an Spalieren, der frühere Friedhof der Nonnen, wird heute von einem Kreuzgang in schlichtem Barockstil umfaßt.Kreuzgang Kein Prunk, aber „Ergebnis“ liebevoll ordnender Hände. Der Südeingang mit seinen alten Pyramideneichen am Bach ist der ehemalige Haupteingang des Klosters. Hier sitze ich nun nach einem kurzen Gespräch im Anschluß an eine Führung und lasse mich von der Stimmung des Ortes einfangen. Wie soll man sich die Szene ausmalen, die, wenn es so etwas in einem der ärmeren der fünf Calenberger Kloster gegeben haben mag, wohl im Scriptorium stattgefunden hat: Der Ritter Helmich von Bennigsen, die Bennigser Bauern olemanne, corde ravens, detharde roden, worme, gherlaghe hovemannes und hermene wilghen als Bürgen für Dietrich Mummentey, der von Lüdersen hierher einen noch weiteren Weg hatte, dazu der Prior oder hier, im Augustinerinnen-Kloster, eine Nonne, mit Pergament und Federkiel an einem Schreibpult? Schließlich noch Hannes van Boltessem und Henningh Vretholt, die ihre fünf Äcker gegen sieben Pfund hannoversch verpfänden.

In den einleitenden Zeilen einer Urkunde des Klosters Barsinghausen um 1309 liest man eine auch im lateinischen Quelltext wohlformulierte Begründung solcher Treffen: „Damit das, was im Zeitlichen verhandelt wird, nicht zugleich mit der Zeit vergeht, pflegt es der Aussage von Zeugen anvertraut oder der schriftlichen Erinnerung übergeben zu werden“. Q.z.D. a.a.O. S. 61.

Durch diese kleine Versammlung wird Öffentlichkeit hergestellt vor mündlichen und schriftlichen Zeugen. Bei Grundstücksbegehungen noch früherer Zeiten, zog man dem jüngsten Teilnehmer am Ohr, damit er sich Umstände und Datum besonders einpräge.

Zur Zeit der Ausstellung der Urkunde vom Michaelistag 1384 ist Sophia von Herbergen Priorin, Propst Ludwig, vertritt das Kloster nach außen auch in allen weltlichen Angelegenheiten. 1377 waren bei einem Brand fast alle Klostergebäude vernichtet worden, die Konsolidierung des Klosters, vor allem durch Schenkungen, war noch lange nicht abgeschlossen. Das große Schisma von 1378, die Papstdoppelwahl, die der Christenheit je einen Papst in Rom und in Avignon bescherte, warf seine Schatten auch über das Kloster Wülfinghausen.

Wie haben diese Menschen die erste Pestepidemie von 1350 erlebt, die nach einer Reihe von Naturkatastrophen, Teuerungen und Hungersnöten zu Anfang des Jahrhunderts, den apokalyptischen Schrecken eine letzte, tödliche Realität gab.

Petrarca fragt:“Weshalb hat sich nach deinem Urteil, so Gerechtester, die Wut deiner Rache ausgerechnet auf unsere Zeit gestürzt?“ „Sicher nicht mangels Gerechtigkeit, doch muß uns das ein Geheimnis bleiben.“ Oh glückliches Volk der Nachgeborenen, das dieses Elend nicht mehr gekannt haben wird.

Es war Petrarca, der am 26. April 1336, fast zwei Jahrzehnte früher, mit seinem Bruder Gherardo den Mont Ventoux bestieg, einen Berg in der Nähe von Avignon, und auf dem kahlen winddurchtosten Plateau seine Augen nicht zum Himmel hob, sondern in die weite Landschaft blickte und dadurch sein persönliches „in der Welt sein“ zum Ausdruck brachte. Noch vor der Pest und dem sich daran anschließenden Zweifel an der baldigen Errichtung des Himmelreichs durch die Wiederkunft Christi, kündet sich hier der Bruch der Einheit von Glaube und Welterleben an. Nicht mehr das himmlische Jerusalem, das auch in der Ebstorfer Weltkarte im Zentrum der bekannten Welt liegt, sondern eine Welt, die man um ihrer selbst Willen bereisen und an deren Schönheiten man sich erfreuen kann, liegt vor den Augen des Betrachters.

Von Italien her hat sich das Grauen vor der Pest und die tödliche Seuche selbst schneller verbreitet als die neue Weltsicht und nach den ersten Wellen, die die größten Verluste brachten, wird ein zynischer Zug der Geschichte sichtbar: Es sterben die Menschen - nicht aber ihr Geld, das vererbt und akkumuliert, weiter investiert werden kann! Es fehlt an Menschen, vor allem den Städten, deren beengte Wohnweise dem Massensterben Vorschub leistete.

Beim Verlassen des Klosters lese ich einen Hinweis auf das Fürbittenbuch, dessen Eintragungen in die Gebete der Communität aufgenommen werden. Die Teilnehmer der Beurkundung werden das Kloster nicht verlassen haben, ohne eine Kerze in der Klosterkirche entzündet und sich und ihre Angehörigen der Fürbitte der frommen Schwestern in Wülfinghausen versichert zu haben.

1384 ist die Pest nicht besiegt, aber das große Sterben liegt eine Generation zurück. Eine Ahnung von Reichtum, glücklicher Heirat, vom Luxus eines Studiums vermitteln die vorgestellten Quellen. Mehr erfahren wir nicht. Die Zeiten danach haben manchen Namen bis auf den heutigen Tag erhalten, ein unsichtbares Band, das die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpft.