T r i a c a s t e l a - S a r r i a

 
 
 
 

Die Etappe nach Triacastela war noch ganz unbeschwert gewesen, der Rucksack trug sich wie beim Training und das Tempo war unbekümmert hoch. Das Glücksgefühl, die erste Etappe so schnell und problemlos geschafft zu haben, überschwemmte alle Vorsicht.
Am Nachmittag hatte ich mir noch Geld abgehoben und den weiteren Weg erkundet. Es gab auch hier zwei Varianten: eine über das Kloster Samos, mit einem etwas weiteren, aber bequemen und übersichtlichen Weg und eine andere, die ich wählte, über Montán und Calvor. Sie führt über kleine Fuß- und Viehtriebswege sowie einen Paß durch traditionelle galicische Bauerndörfer, war also landschaftlich attraktiver als die Route über Samos.
Gegen abend hatte ich noch in einer Bar einen Café con leche und eine Tarta de Santiago gegessen und war von einem etwas angeheiterten Spanier angesprochen worden, der meiner Unterhaltung mit dem Barmann interressiert gefolgt war und mir nun wortreich und hartnäckig die Route über Samos ans Herz legen wollte. Der Barmann, der zwischendurch mit einem Schnitzmesser den Vorrat an Jakobsstöcken, die in der Tür der Bar zum Verkauf standen, vergrößerte, machte mit Daumen und Fingern das Zeichen für Schnattern, doch mir schoss das Wort von den Kindern und den Betrunkenen durch den Kopf, die angeblich die Wahrheit sagen. Auch versuchte ich verzweifelt und vergeblich mir den genauen Inhalt eines Gespräches zwischen Tür und Angel vor meiner Abreise über die beiden Wegmöglichkeiten ins Gedächtnis zurückzurufen. Ob ich, wenn ich gewußt hätte, was ich nach meiner Rückkehr erfuhr, die Route über Samos gewählt hätte, kann ich nicht mit Gewißheit sagen, ich hätte aber einige bittere, wenn auch nützliche Erfahrungen und Fotos weniger gemacht. Merkwürdig ist es aber schon, dass ich mich gerade auf dieser Etappe so krass verlaufen habe!

 
 

Nebel braut in den Tälern.

Neben bewohnten Gehöften viele Zeichen des Verfalls.

 
 

Der Pilgerbrunnen mit der Jakobsmuschel.

Gegen sieben Uhr brach ich am Freitag, wie schon gewohnt, auf und verließ am Ortsausgang von Triacastela die Straße nach Samos und wandte mich nach rechts , um nach den Gärten, die ich in der Dunkelheit nur deswegen erahnte, weil ich an ihnen tags zuvor entlanggegangen war, ein ansteigendes schmales Tal in Richtung San Xil hinaufzuwandern. Im ersten kleinen Ort A Balsa habe ich mich dann fürchterlich verlaufen, den Bach bei km 128,5 und die Gabelungen laut Dumont habe ich wohl noch richtig genommen, doch dann zeigte mir der Lampenschein keine Wegmarkierungen mehr. Vielleicht war das, was ich für einen Hofeingang hielt, doch der richtige Weg, ich hielt mich nun links und stürmte in Erwartung des schon zitierten Passes einen landwirtschaftlichen Weg hinauf und hatte nachträglich den Eindruck den Naudelo, 902 m hoch, umrundet zu haben. Schließlich endete der Weg auf einem riesigen von einem schweren Pflug umgebrochenen Acker, dessen Tiefe und Feuchtigkeit es nicht erlaubte, ihn zeitsparend zu durchqueren. Die schließlich gefundene Abkürzung führte auf eine Viehweide, die für noch ganz andere Rindviecher durch die allgegenwärtigen von Dornenranken durchwucherten Steinmauern und rutschigen Hänge ausbruchssicher gemacht worden war. Also mußte ich zurück - nachdem ich, nur vorwärtsdrängend, fast Kopf und Kragen riskiert hatte - über die Weide zurück, zurück über den Acker, ihn an seinen Katheten ungeduldig abschreitend, bis ich nach einer weiteren Zeit des Umherirrens, über immer gleich aussehende Wege, das ferne Ziel einer Straße wohl vor Augen, auf einen Viehtriebsweg mit frischen Kuhfladen gelangte. Links oder rechts, Weide oder Dorf? Natürlich wählte ich zunächst falsch, aber im Dorf gab es auch keine Menschenseele, die ich hätte fragen können! Antworten gab es aber auch so, Kuhfladen als Ersatz für ein Navigationssystem und Niederlagen, die der Camino in Siege verwandelte!!
 
 
So ging ich weiter bergauf und fand schließlich auf die Asphaltstraße, die ich bislang nur sehen aber nicht erreichen konnte. Endlich fiel mein Blick durch sich auflockerndes Buschwerk auf den Pilgerbrunnen mit der großen Muschel an einer parallel verlaufenden Straße, die schließlich auf meinen Weg zulief. Nach einer kleinen Ewigkeit und einer halben Weltreise gelangte ich - in San Xil an! Den Paß, Alto Riocabo, 910 m, hatte ich noch vor mir.

Von oben kam ich herab, vom Pilgerbrunnen führt die Straße hinauf; im Rücken liegt San Xil!

 
 

Das Grün des Mooses und der Flechten auf den feuchten Steinen der Mauer hatte es mir besonders angetan.

 
 
 

Aufgereiht wie Dominosteine: Die Feldabgrenzungen.

Bis nach Santiago de Compostela hörten die steilen Anstiege nicht auf!

 
 

Vorboten des Nebels.

Noch liegt der Weg im Sonnenschein!

 
 

Selbstbildnis!

Nun ist die Sonne weg und der Nebel beginnt sein Unwesen zu treiben.

 
 

Weit geöffnet das Tor zur galicischen Gespensterwelt!

 
 
 

Ein umgedrehter Zweischar-Pflug, mit dem im Nebel die Phantasie spielen kann.

In Andenkenläden längs des Camino und auch in Santiago de Compostela werden Hexenfiguren und Puppen verkauft und gekauft, die den Harzer Brockenhexen zum Verwechseln ähnlich sehen und dank moderner Technik-Hexerei aus einem Sprach-Chip eine Art Hexengeschrei von sich geben. Es gibt eine Unmenge an galicischen Hexengeschichten, die mir bei meiner Wanderung noch nicht bekannt waren. Vielleicht hätte es mich dann doch gegruselt!
So aber musste ich über Trittsteine balancieren, glitschigen Stellen ausweichen und bei all diesen Manövern noch einigermaßen Kurs und Rhythmus wahren. Ab und zu habe ich mich schon mal umgedreht, auch wenn es viele Geschichten gibt, in denen gerade dadurch das Verhängnis heraufbeschworen wurde!
 
 

Die felsigen Wege bieten schon einen Vorgeschmack auf weitere Corredoiras, die zu Regenzeiten nur über Trittsteine zu passieren sind.

Im Herbst ist der Camino nicht überlaufen, Begegnungen mit Weggefährten mit ihrem je eigenem Tempo oder Einheimischen waren eher selten.

 
 
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Auf diesen alten Dorfverbindungswegen, Corredoiras, gehen fast nur noch die Jakobspilger, die eigentliche Bedeutung wenigstens auf dem Camino bewahrend.

Diese Etappe war mit der von Arzúa nach Monte do Gozo eine arge Prüfung. Dem ersten Verlaufen in der morgendlichen Dunkelheit, bei dem die Vernunft dem Vorwärtsdrängen und Zielfixierten nur mit äußerster Anstrengung eine rationale Marschroute entgegensetzen konnte, folgte die eintönige Mühsal des Weges. Alle Muskeln schmerzten und jedes überflüssig scheinende Gepäckstück wurde zur peinigenden Last. Irgendwann wurde auch das zur Gewohnheit, man hatte sich eingelaufen, spulte die Kilometer ohne großes Nachdenken ab, bis ich dann nach der Herberge von Calvor den nächsten Ort Aguída, vor dem man scharf nach rechts abbiegen mußte, um auf dem Camino zu bleiben, schon für Sarria hielt, geradeaus weiterlief und mit Erstaunen und Bitterkeit nur Bauernhäuser und Gehöfte und von denen auch immer weniger, je weiter ich ging, vorfand und so zum zweiten Mal an diesem Tage umkehren mußte, um auf dem Weg zu bleiben.
Einige Pilger mit Stöcken und Kalebassen, von ihrem mit einer Karte versehenen Vormann über die Landstraße gescheucht, die er gegenüber dem Camino für eine Abkürzung hielt, hatte ich vorher insgeheim hohnlachend überholt. Nun war ich selbst vom Weg abgekommen und einen Umweg gelaufen, konnte aber meinen Ehrgeiz nicht zügeln, sie abermals zu überholen als eine Rast die lang auseinandergezogene Gruppe wieder vereinigen sollte. Wir wechselten ein paar Worte, dann ging es weiter.
 
 

Weiter und weiter führt der Weg durch steinige und neblige Hohlwege.

Wenn ich nicht fotografiert und Tagebuch geschrieben hätte, um den Camino de Galicia ein wenig zu dokumentieren, dann wären die Bilder der Erinnerung dem Ziel geopfert worden, gelbe Pfeile als Wegmarkierungen, Kilometersteine mit der restlichen Strecke nach Santiago de Compostela und der Laufrhythmus bestimmten das Bewußtsein.

 
 

Ob es wohl nur Rechtskurven gab?!?

Noch 121 km bis Santiago de Compostela! Bald folgt man blindlings den gelben Pfeilen!

 
 

Mit diesem gespenstischen Hohlweg wird der Nebelwald verlassen und langsam rückt Sarria näher.

 
 
 

Es wird noch eine Weile dauern, bis Sonnenstrahlen die Tautropfen zum Verdunsten bringen.

 
 
 

Nach diesem Gullydeckel waren es noch etliche Kilometer, bis der Stempel in die Credencial gedrückt, eine Habitación und eine Comida gefunden waren!

Gasse mit Camino-Pfeil. Der Weg für den nächsten Morgen, den ich, ein wenig gestärkt, am Nachmittag erkunde.

 
 

Ein schöner von Platanen beschatteter Platz nahe der Kirche, der Schutz vor der der noch kräftigen Sonne bot. Als ich eineinhalb Wochen später ins regnerische Alemania zurückkehrte, waren die Regale in den Geschäften schon voller Weihnachtsutensilien. Welch ein Kontrastprogramm!

Angesichts der kleinen Christusstatue vollzieht sich der langsame Verfall und Ausverkauf des ländlichen Galicien. Auf einer Bank wartete ich hier auf die Sekretärin der Kirchengemeinde, um meine Credencial abstempeln zu lassen.

 
 

Blick von einem Mäuerchen oberhalb der Stadt auf Sarria.

Eine vorsichtige und doch neugierige Eidechse will überlistet werden.

 
 

Nun noch ein bißchen!

Da ist sie, Auge in Auge mit der Kamera!

 

Als ich diese Bilder machte, bei der Erkundung des Weges für den nächsten Morgen, hatte ich mich förmlich bergauf gequält und vor dem Gedanken, um halb acht meine Wäsche aus der Reinigung unten in Sarria holen zu müssen, grauste mir. Weniger vor dem Weg an der alten Kirchhofsmauer entlang, den man nach dem Abbiegen nach rechts erreichte, vor einem dicken gelben Balken mit stadteinwärts gewandten Pfeilen, der die Pilger vor der magischen Anziehungskraft, den ursprünglichen Weg weiter geradeaus zu gehen, warnen sollte. Ich ertappte mich selbst dabei, am nächsten Morgen, nun mit neuen Kräften, den Weg bergauf rasch zurückgelegt, über diese Warnung ' PEREGRINOS NO ' hinwegzustürmen, dreimal zu gucken, um dann immer noch nicht recht überzeugt, endlich nach rechts abzubiegen!
Ich hatte ein Zimmer in der Bar Escalimeta in der Altstadt nahe der Kirche, Dusche und Toilette waren zwar auf der Etage, doch waren nette Leute dort für ein kleines Schwätzchen in Spanisch, so konnte ich meine cincuenta palabras in immer neue Reihenfolgen bringen!
Der Auf- und Abstieg zur und von der hochgelegenen Altstadt schmerzte im ganzen Körper, doch so schlimm wie das Aufstehen nach der Comida in einem nach langem Suchen in dem weitläufigen, städtischen Sarria gefundenen Restaurant, wo ich mich an Tisch und Stuhl festhalten musste in der Furcht, nicht auf den Beinen bleiben zu können, war es dann nie wieder. Und es war nicht der vino tinto, an den man sich schnell gewöhnen kann, weil es eine gute Flasche zu jeder Mahlzeit gab!
Eindrucksvoll war ein Park in Sarria, den man, aus der Altstadt heruntergestiegen, auf dem Weg ins moderne Zentrum bald passierte. Eltern und Kinder, alte und junge Leute saßen und spielten miteinander und es herrschte ein fröhliches Leben und Treiben, wie man es sich wohl gern auf unseren tristen Spielplätzen wünschen würde. Ich sprach noch mit Weggefährten darüber, die mir auch genau diese Beobachtung als eine ihrer Errinnerungen an Sarria schilderten.

 
 
 
 
©Texte und Bilder: Folker Wagner Mummenthey